Helme aufsetzen, Sicherheitswesten anziehen, feste Schuhe tragen. Und nicht auf die Gleise treten. „Die können bei Nässe rutschig sein“, sagt Erik Bentzel. Der 33-Jährige hat auf dem Rangierbahnhof Maschen das Sagen. Besuchern erklärt er, wie man sich auf dem Gelände richtig verhält und vor allem: sicher bewegt. 700 Mitarbeiter arbeiten hier auf einer Fläche, die so groß ist wie knapp 400 Fußballfelder. Von der Dachterrasse eines Verwaltungsgebäudes kann man über den Bahnhof blicken. Man sieht Gleise, Gleise, Gleise. Sie reichen bis zum Horizont und liegen zu Dutzenden nebeneinander. Die bunten Container darauf wirken wie Legosteine, doch: „So einer wiegt locker über 80 Tonnen“, sagt Erik Bentzel. Darin stecken Handelsgüter wie zum Beispiel Kleider, Möbel oder Computer. Sie sollen in Dänemark oder Schweden ankommen, andere in Richtung Süddeutschland rollen.
Wir haben uns Schritt für Schritt angesehen, wie das funktioniert.
1. Der Löser
Ingo Harms wird erwartet: Auf Gleis 119 steht ein 634 Meter langer Güterzug. Seine Waggons sollen getrennt und neuen Zügen zugeordnet werden – Alltag im Rangierbahnhof Maschen. Als Löser ist Ingo Harms für den ersten Schritt zuständig. Eine Liste verrät ihm, an welchen Stellen er den Zug zerlegen soll. Damit diese mühelos durch die Anlage rollen, löst Harms zunächst die Bremsen: Er zieht einen Griff unter den Waggons, damit die Druckluft aus den Bremsschläuchen weicht. Dann stellt sich Harms auf die Gleise und kurbelt an einem Gewinde. So löst er die Kupplung, also eine Verbindung zwischen den Waggons. Wenig später ist der Zug zerlegt.
2. Der Lokführer
Als Nächstes ist Wolfgang Paul an der Reihe. Heute früh um sechs Uhr ist er in seine rote Rangierlok geklettert. Jetzt fährt er sie hinter einen aufgetrennten Zug. Eine Lok wie seine ist nämlich nicht dazu da, Waggonketten zu ziehen – sondern anzuschieben. Dabei drückt sie bis zu 2.400 Tonnen Gewicht über die Gleise! Allerdings: Sobald Wolfgang Paul mit einem Rums am Hinterteil des losen Zuges angekommen ist, übergibt er das Kommando an einen Computer. Der steuert die Lok über Funk und sagt ihr, wie schnell sie fahren soll. Gerade treibt sie die Waggons mit acht Kilometer pro Stunde vor sich her, das entspricht ungefähr dem Tempo eines Dauerläufers. Am Ende der Strecke drückt die Lok die Waggons eine kleine Anhöhe hinauf, den sogenannten Ablaufberg. Wolfgang Paul überwacht die Fahrt und stellt sicher, dass der Computer alles richtig macht.
3. Der Vergleicher
Doppelt hält besser: Thomas Kasten prüft, ob bisher alles richtig gelaufen ist. Mit der Brille auf der Nase steht er am Gleisbett, hebt und senkt den Blick. Er vergleicht zwei Dinge: die lose Waggonkette, die die Rangierlok an ihm vorbeischiebt. Und: die Zerlegeliste vom Löser. Sind auch wirklich die richtigen Waggons getrennt worden? Fällt Thomas Kasten bei der Kontrolle ein Fehler auf, schlägt er Alarm.
4. Die Bergmeisterin
Grit Propp guckt den ganzen Tag aus dem Fenster – beruflich natürlich! Sie überwacht den Ablaufberg, einen drei Meter hohen Hügel, auf den die Rangierlok die lose Waggonkette schiebt. Oben angekommen, geschieht dann Folgendes: Die einzelnen Waggons rollen den Berg hinab. Auf dem Weg abwärts fächern sich die Gleise auf wie die Zinken einer Gabel. Ein Computer steuert die Weichen und lenkt jeden Waggon auf eines dieser Gleise. Grit Propp sieht das Ganze nicht nur vom Fenster aus: Zwei Bildschirme zeigen ihr, welcher Waggon wo zum Stillstand kommen soll. Pro Tag werden hier am Berg etwa 1500 Waggons in ihre Zielgleise sortiert. Weil tonnenschwere Güterwagen dabei ein Tempo von bis zu 35 Kilometer pro Stunde erreichen und den Mitarbeitern gefährlich werden könnten, kann Grit Propp die Anlage jederzeit stoppen. Bisher musste sie die roten Notknöpfe auf ihrem Schreibtisch aber noch nie drücken.
5. Der Kuppler
Hinter dem Ablaufberg arbeitet Michael Pockrandt. Seine Aufgabe ist es, aus den eingelaufenen Waggons wieder einen Zug zu machen. Damit die Bremsen später funktionieren, muss Michael Pockrandt aber erst die Bremsanlage mit Luft füllen. Dazu schließt er den Zug an eine große Luftpumpe, einen Kompressor an. Dann fügt er die Waggons zusammen: Er verbindet die sogenannte Schraubenkupplung und legt am Ende einen Bügel über einen Haken. Diese Metallschlaufe wiegt 20 Kilogramm, so viel wie vier große Säcke Kartoffeln.
6. Der Wagenmeister
Fertig zur Abfahrt? Nicht ganz. Fred Lünsberg schaut sich die neu zusammengestellten Züge noch einmal genau an. Bei seiner Inspektion prüft er: Sind Bremsklötze abgenutzt? Die Container verriegelt? Ihre Wände zu ausgebeult? Schließlich müssen sie durch enge Tunnel passen. Eine Zange für kleinere Reparaturen hat Fred Lünsberg immer dabei. Für größere Mängel zückt er sogenannte Schadzettel, mit denen er betroffene Waggons kennzeichnet und Hilfe holt. Sind alle Zugteile startklar, können sie den Bahnhof verlassen, und eine Lok zieht sie ans Ziel.
Und warum legen sie dann hier in Maschen, mitten auf dem flachen Land in Niedersachsen, einen Zwischenstopp ein?
„Man könnte sagen: Der Bahnhof hier ist eine riesengroße Sortiermaschine“, sagt Erik Bentzel. Denn Züge, die in Maschen ankommen, bestehen im Durchschnitt aus 30 Waggons. Bis hierher hatten alle denselben Weg, aber nun sollen sie in getrennte Richtungen fahren und unterschiedliche Ziele erreichen – wie Menschen, die an einem Bahnhof umsteigen und sich zu neuen Fahrgemeinschaften zusammensetzen. In Maschen müssen die ankommenden Züge deshalb zerlegt werden. Anschließend werden die Waggons neu geordnet und verkuppelt. Bis am Ende ein Zug daraus entsteht, ist es ein ziemliches Hin- und Hergeschiebe. Unter Eisenbahnern sagt man dazu „rangieren“. Weil ein Zug locker 700 Meter lang ist, muss die Arbeit auf dem Bahnhof gut organisiert sein. Die Kollegen von Erik Bentzel arbeiten in drei Schichten rund um die Uhr, damit die Handelsgüter möglichst schnell an ihr Ziel kommen. So vergeht nur ein halber Tag zwischen der Ankunft eines Waggons und dem Zeitpunkt, an dem er den größten Rangierbahnhof Europas wieder verlässt!
Der Bahnhof in Zahlen
- 7.000 Meter misst der Rangierbahnhof in der Länge
- 750 Weichen leiten die Waggons an die richtige Stelle
- 300 Kilometer Gleisstrecke gehören insgesamt zum Bahnhof
- 4.000 Waggons werden täglich zu neuen Zügen zusammengesetzt
Präsentiert von GEOlino (Leselok 4/2018)